Im Zuge der Quellenarbeit für das Projekt “Jüdisches Sachsen-Anhalt” stieß ich während der Auswertung der Militärstammrolle der Stadt Aschersleben für 1910 auf den Eintrag eines jüdischen Schauspielers, Erich Riewe, der nur von Januar bis März 1910 in der Stadt lebte, weshalb der Aktenvorgang nach Berlin-Charlottenburg weitergegeben wurde.
Erich Riewe, 1889 in Märkisch-Friedland geboren, war vermutlich für ein Theater-Engagement zu Beginn des Jahres 1910 für einige Monate nach Aschersleben gekommen, kurz vor Antritt seines Militärdienstes, im Alter von 21 Jahren – der Beginn einer Karriere?
Beim Versuch der Rekonstruktion seiner folgenden Lebensstationen sollte sich schnell herausstellen, dass dies ein weniger einfaches Unterfangen werden sollte: Finden sich auf gängigen Plattformen wie Wikidata, der GND oder der Datenbank des Deutschen Literaturarchivs in Marbach bereits Einträge zu einem Schauspieler Erich Riewe, die nur sehr spärlich mit Informationen bestückt sind, wird aufgrund der unterschiedlichen Lebensdaten schnell klar: Im Berlin der 1920er Jahre muss es zwei Schauspieler selbigen Namens gegeben haben, die sich zur gleichen Zeit in ähnlichen Milieus bewegt haben müssen.
Weitere Recherchen in den Berliner Personenstandsregistern führten zu ersten Ergebnissen zu beiden hier untersuchten Personen: Erich Riewe, der 1910 in der Militärstammrolle gelistet war, hatte dreimal geheiratet: zunächst 1916 die Korrespondentin Martha Elisabeth Kornetzke (die Ehe wurde 1927 geschieden); fünf Monate später heiratete er bereits seine zweite Frau Klara Hermine Hedwig Fernow (verstorben 1954 an einer chronischen Lungenentzündung), und im selben Jahr seine dritte Frau Ella, geb. Dumke, mit der Riewe bis zu ihrem Tod 1970 zusammenlebte. Erich Riewe selbst starb zwei Jahre später 1972 in Berlin-Schöneberg. Sein Namensvetter Erich Max Richard Riewe wurde am 06. März 1897 als Sohn evangelischer Eltern in Berlin geboren und verstarb ebenda unverheiratet und im jungen Alter von 32 Jahren am 09. Juli 1929.
Aus weiteren Quellen, wie Zeitungsartikeln, Fotografien, Theaterprogrammheften oder den Notizbüchern Berthold Brechts ergab sich eine Masse an Indizien, die es aufgrund der in den Quellen und Literatur oft fehlerhaften Zuordnung folgend auseinanderzuhalten und wieder richtig zuzuordnen galt.
Durch mehrere Zeitungsartikel des Jahres 1929 im Deutschen Zeitungsportal ließ sich feststellen, das Erich Riewe (1897-1929) zunächst als Schauspieler an den Münchner Kammerspielen und später am Staatstheater in Berlin arbeitete.
Artikel zum Tod Erich Riewes in der Morgenausgabe der Berliner Börsen-Zeitung vom 10. Juli 1929.
Kurz vor seinem Tod übernahm er zudem eine Sprecherrolle in der Hörspielproduktion zu Wilhelm Tell durch die Deutsche Grammophon-AG. Zu diesem Erich Riewe, der in München und Berlin spielte, finden sich zudem Aufzeichnungen in den Notizbüchern Bertolt Brechts. In den Registern der Edition dieser Notizbücher (Seite 102), wird der von Brecht notierte Riewe jedoch mit den Lebensdaten 1889-1972 aufgelöst und ihm zudem eine Mitarbeit an Hörspielproduktionen der Funkstunde Berlin unter der Leitung von Alfred Braun und Bertolt Brecht zugeschrieben (Anhang Notizbuch Bd. 24, Seite 24). Hier muss den Editoren also ein Fehler unterlaufen sein, denn Erich Riewe, der in München und Berlin Theater spielte und kurz vor seinem Tod auch für die Hörspielproduktion Wilhelm Tell tätig war, ist nicht identisch mit seinem acht Jahre älteren Namensvetter, der mit Alfred Braun in der Funkstunde AG Berlin arbeitete. Die Editoren müssen beide Personen jedoch miteinander vermengt haben.
Fotografie von Erich Riewe und Alfred Braun, undatiert (Privatsammlung David Löblich).
Ein weiteres Indiz, das dem so ist, bildet eine im September 2024 aufgetauchte Fotografie, die selbst nicht datiert ist, aber Alfred Braun und Erich Riewe zeigt, mit den aufgedruckten Zusätzen “Funkstunde Berlin 1928-1933” und “Berliner Rundfunk 1947-1949” sowie einer rückseitigen handsignierten Widmung Erich Riewes. Die Datierung dieser Widmung auf den 12. Dezember 1971 und die nahezu identische Unterschrift Riewes im Vergleich zu den Unterschriften auf seinen Heiratsurkunden von 1916 und 1927 (siehe Abb. unten) legen hierbei nahe, dass es sich um Erich Riewe (1889-1972) handelt, der im Register zu den Brecht-Notizbüchern mit den entsprechenden Lebensdaten 1889 bis 1972 richtig identifiziert wurde, aber nicht wie dort beschrieben, identisch mit Erich Riewe ist, der am Staatstheater Berlin und den Münchner Kammerspielen tätig war.
Widmung mit Unterschrift Erich Riewes vom 12. Dezember 1971 (Privatsammlung David Löblich).
Unterschrift Erich Riewes auf seiner Heiratsurkunde von 1927.
Für ihn (Erich Riewe (1897-1929)) finden sich über die bisher genannten Quellen hinaus in der zeitgenössischen Presse zahlreiche Rezensionen über Engagements in Stücken an den genannten Schauspielhäusern. Für Erich Riewe (1889-1972) bleibt dessen Karriereweg allerdings noch unerforscht. Oben genanntes Foto ist ein Indiz für die Zusammenarbeit mit Alfred Braun, der in den auf dem Foto beschriebenen Zeiträumen auch in der Funkstunde Berlin und dem Berliner Rundfunk arbeitete. Darüber hinaus ist über Riewes Weg bis auf das vermutete dreimonatige Gastspiel in Aschersleben, das den Ausgangspunkt dieser Untersuchung bildete, nichts weiter bekannt. Durch das kollaborative Potential von FactGrid ist jedoch zu hoffen, das sich in Zukunft durch weitere Funde, auch in anderen Projekten, das Bild zu beiden Erich Riewes noch weiter verdichten werden und weitere Puzzleteile, die gefunden werden, der jeweils richtigen Person zugeordnet werden können.