Von Sozialisten, Shoah-Überlebenden und dem American Dream. Das Potential von Social Philately für die Geschichtswissenschaft

Social Philately ist eine philatelistische Bewegung, die in den 1980er Jahren in Australien und Neuseeland entstand und Anfang der 2000er Jahre Europa erreichte. Diese Bewegung zielt darauf ab, traditionelle philatelistische Fragestellungen zur Analyse postalischer Belege mit einer breiteren kulturellen und sozialgeschichtlichen Kontextualisierung zu verbinden. Dabei werden nicht nur die reinen Postbelege untersucht, sondern auch die Absender und Empfänger der Briefe, der Text der Briefe oder Postkarten sowie der historische Kontext, in dem diese entstanden sind, berücksichtigt.

Für die Philatelie ist dieser Blick über den eigenen Tellerrand äußerst bereichernd. Aber auch umgekehrt bietet der Blick auf scheinbar einfache und oft irrelevant erscheinende Quellen wie Briefumschläge oder Postkarten ein enormes Potenzial für die Geschichtswissenschaft. Diese Quellen bieten einen leichten Zugang zu einer riesigen und unerschöpflichen Menge an Daten zur Alltagsgeschichte von Menschen aller Gesellschaftsschichten seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, die im privaten Raum entstanden sind. Das Potenzial für Fragestellungen in diesem Bereich ist nahezu unbegrenzt. Es bieten sich Ansätze für die post- und kommunikationsgeschichtliche Forschung, Forschung zu Propaganda und Werbung (bspw. zur Verwendung und Verbreitung von Werbeklischees oder Ganzsachen), biographische Fragestellungen oder Hinweise auf persönliche Netzwerke, die sonst über keine andere Quelle greifbar wären, um nur einige Möglichkeiten zu nennen. Dadurch könnten Zugänge und Methoden genutzt werden, wie sie auch für archivisch überlieferte Korpora üblich sind, wie das folgende Beispiel des Korrespondenznetzwerks der Illuminaten in FactGrid zeigt, welches mögliche Potenziale für Analysen eröffnet:


Korrespondenznetzwerk des Illuminatenordens: Wer schreibt wem, von wo nach wo.

Neben der schieren Masse an zugänglichen Quellen besteht das Problem oder Potenzial der fehlenden Systematisierung und Erschließung solcher Quellen. Die Suche nach bestimmten Briefen oder Themen ist nahezu unmöglich, und Wissenschaftler müssen sich auf den Zufall einlassen, da man beispielsweise vor einem Flohmarktbesuch nie wissen kann, welche Art von Material man finden wird. Einzelne, zufällig entdeckte Dokumente mögen ohne Kontext keine große Relevanz besitzen. Wenn man jedoch diese Daten in großer Menge sammelt, kontextualisiert und miteinander verbindet, eröffnen sich spannende Möglichkeiten zur Erforschung der oben genannten Fragestellungen. Plattformen wie FactGrid bieten für ein solches Unterfangen großes Vernetzungspotenzial. Die Offenheit der Datenbank ermöglicht es, einzelne Belege zu dokumentieren, mit vorhandenen Datensätzen zu verbinden und so persönliche Netzwerke, Biographien etc. nach und nach zu rekonstruieren. Auf diese Weise können aus der zufälligen Erwerbung eines alten Briefes oder einer alten Postkarte wissenschaftlich nutzbare Daten gewonnen werden. Dies soll im Folgenden an zwei Beispielen veranschaulicht werden:

Der erste Beleg stammt aus dem Jahr 1950 und wurde per Luftpost von Montevideo nach Deutschland geschickt. Der Absender des Briefes, Ernesto Schoenthal wurde 1907 in Marienhafe im Landkreis Aurich als Ernst Schönthal in eine jüdische Familie geboren. Er hatte zwei Schwestern und war in Deutschland als Kaufmann tätig. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 war er das einzige Mitglied seiner Familie, das rechtzeitig das Land verlassen und 1936 nach Montevideo fliehen konnte. Seine Mutter Bertha Schönthal (geb. Steinberg) war bereits 1937 verstorben und sowohl sein Vater als auch beide Schwestern, die 1940 noch zusammen nach Rinteln gezogen waren, wurden im März 1942 ins Warschauer Ghetto deportiert, wo sich ihre Spuren verlieren. Ernst Schoenthal hingegen scheint es gelungen zu sein, in Uruguay erneut ein Handelsgeschäft aufzubauen und ebenso eine Familie zu gründen.

Nach dem Krieg ist er nie wieder dauerhaft nach Deutschland zurückgekehrt (er verstarb 1987 in Montevideo); scheint sich aber dennoch um das Schicksal seiner Familie und deren Wiedergutmachungsansprüche gekümmert zu haben. In diesem Kontext ist oben abgebildeter Brief aller Wahrscheinlichkeit nach auch zu erklären. Adressat des Briefes war der Rechtsanwalt und Notar Gerhard Obuch. Dieser war 1884 als Sohn eines Richters in Lauenburg/Pommern geboren und hatte in Leipzig, Berlin und Königsberg Rechtswissenschaften studiert. Vor 1933 war er als Anwalt in Düsseldorf und Berlin tätig, seit 1906 Mitglied der SPD, seit 1917 der USPD und seit 1922 der KPD. Er war im Vorstand der Roten Hilfe Deutschlands, vertrat bei Gerichtsprozessen Angeklagte aus dem Kontext des Spartakusaufstandes und war bis 1933 Abgeordneter im preußischen Landtag für die KPD. Auch er wurde Opfer des NS-Regimes, wurde 1933 verhaftet und ins KZ Sonnenburg verbracht und arbeitete nach seiner Freilassung zunächst nur noch im Straßenbau und ab 1935 als Buchhalter. Nach 1945 war er nicht mehr politisch tätig und darüber hinaus gibt es keine gesicherten Informationen zu seinem Leben nach 1945 bis auf seinen Tod 1960 in Rauenthal.

Über die Verbindung zwischen Schoenthal und Obuch können hier nur Vermutungen angestellt werden, da der genaue Inhalt des Briefes unbekannt ist. Nahe liegt, das Obuch nach dem Krieg wieder als Anwalt tätig war und sich in der Region in der er lebte (wie der Brief zeigt, muss er 1950 von Norderney nach Norden verzogen sein; die Information hatte Schoenthal nicht und muss nachträglich im Prozess der Zustellung durch einen Postbeamten ergänzt worden sein), für Wiedergutmachungsansprüche von Opfern der NS-Herrschaft einsetzte und so zum Ansprechpartner für Schoenthal wurde, der sich um Rückerstattung von enteignetem Vermögen seiner Schwestern und seines Vaters bemühte. Dadurch bietet dieser philatelistische Beleg einen Nachweis über diese mögliche Verbindung der beiden Personen und einen Ausgangspunkt für weitere mögliche Recherchen, beispielsweise in evtl. noch vorhandenen Wiedergutmachungsakten, um oben beschriebene These möglicherweise erhärten oder widerlegen zu können. Dabei bildet dieser Brief einen interessanten Hinweis auf eine Verbindung zwischen unterschiedliche Opfergruppen des NS in ihrer hier möglicherweise gemeinsamen Bemühung um Wiedergutmachung.

Der zweite Beleg, seine Geschichte könnte nicht unterschiedlicher sein, überquerte etwa 25 Jahre früher im Dezember 1925 den Atlantik von Indianapolis nach Esslingen am Neckar. Die Ganzsache wurde im Dezember 1925 von Chris Bernloehr in Indianapolis als R-Brief (Einschreiben) aufgegeben, durchquerte am 10. Dezember die Registry Division der Post in Indianapolis, erreichte zwei Tage später das Auslandspostamt in New York und ein dritter Stempel auf der Briefrückseite bestätigt eine Zustellung mit der württembergischen Bahnpost bereits am 23. Dezember 1925. Der Brief benötigte demzufolge etwa zwei Wochen von Indianapolis bis nach Esslingen in Württemberg:

Neben diesen direkt ablesbaren Informationen zu Briefart und Reiseweg stellt sich nun die Frage nach dem Kontext und der möglichen Geschichte hinter diesem Brief. Christian Bernloehr wurde am 6. Januar 1866 in Adelmannsfelden in Württemberg als eines mehrerer Kinder eines Tagelöhners geboren. Er besuchte in Deutschland keine Schule und vermutlich der Armut geschuldet wanderte die Familie bereits 1876 nach Amerika aus. Dies vermerkte der zuständige Pfarrer nachträglich selbst in Christian Bernloehrs Taufregistereintrag:

Dort heißt es in der Spalte unter seinem Vornamen: “ist mit seinen Eltern nach Amerika ausgewandert”. Über Bernloehr selbst erfährt man aus Zensus-Unterlagen und einem Reisepassantrag, das er recht schnell die englische Sprache gelernt haben muss, seine Körpergröße wird mit 5 Fuß und 7 Inches angegeben (etwa 1,70m), sowie das er schwarze Haare und braune Augen hatte. Die Volkszählungen ab 1900 belegen, das Bernloehr zeitlebens immer in Indianapolis verblieb und sich über die Jahre nach seinem Schulbesuch vom einfachen Zeitungsjungen zu einem angesehenen Juwelier und Uhrmacher hochgearbeitet hatte. Ihm war es also in Amerika (seit 1901 amerikanischer Staatsbürger) gelungen der Armut seiner Heimat zu entkommen. Über sein Leben in Indianapolis erfährt man darüber hinaus mehr in zahlreichen anekdotischen Beiträgen, die der Journalist Anton Scherrer 1938 in einer Rubrik mit dem Titel “Our Town”, nur ein Jahr bevor Bernloehr im September 1939 starb, in der Indianapolis Times veröffentlichte. Aus dem letzten dieser Artikel, seiner Todesanzeige, ist auch zu erfahren, dass Bernloehr trotz seiner Auswanderung zeitlebens seiner Heimat verbunden geblieben sein muss. So wird beispielsweise von seiner Mitgliedschaft in der Schwaben Society in Indianapolis, einem der seinerzeit weit verbreiteten Heimatvereine in den USA, berichtet. Auch der Brief, der den Ausgangspunkt dieser Betrachtungen darstellt, kann vermutlich in diesem Kontext interpretiert werden: Knapp 50 Jahre nach seiner Auswanderung schreibt er einen Brief an einen Kinderhilfsverein in Esslingen am Neckar in seiner alten Heimat. Dies geschah möglicherweise in Erinnerung an seine eigene Kindheit in Armut und dem Bedürfnis Kinder vor Ort, die sich in ähnlichen Verhältnissen befanden, zu unterstützen. Aber auch bei diesem Beispiel kann der Inhalt des Briefes, der nicht überliefert ist, nur durch oben beschriebene Indizien ansatzweise näher rekonstruiert werden.

Ein besonderer Fund für die Zusammenführung von Brief und archivalisch überlieferten Quellen bildete jedoch der 1905 eingereichte Antrag auf einen Reisepass, da Bernloehr für einige Zeit aus geschäftlichen Gründen nach Europa zu reisen plante. Die dort überlieferte Unterschrift Bernloehrs (folgend abgebildet) ist mit der handschriftlichen Notiz des Absenders im dazu vorgefertigten Feld auf dem hier betrachteten Brief nahezu identisch obwohl etwa 20 Jahre zwischen ihnen liegen:

Somit kann, obwohl der genaue Inhalt des Briefes weiterhin unklar bleibt, zweifelsohne bestätigt werden, das Briefschreiber und Person der archivalischen Überlieferung identisch sind.

Diese beiden Beispiele zeigen letztlich, wie groß das Potenzial ist, das in dieser Quellengattung (selbst wenn nur ein Briefumschlag erhalten und der Inhalt längst verloren ist) und der Social Philately-Bewegung auch für die Geschichtswissenschaft, insbesondere für mikrohistorische Fragestellungen, steckt. Bisher (Stand 22.07.2024) gibt es in FactGrid einen Bestand von 3790 Dokumenten, denen der Werktyp “Brief” zugeordnet ist, dazu kommen weniger als 10 Postkarten. Der Großteil dieser Dokumente stammt aus archivalischen Überlieferungen und Projekten, wie dem oben genannten Beispiel zu den Korrespondenznetzwerken der Illuminaten. Mit der Erfassung auch “einfacher Alltagskorrespondenz” jenseits dessen, was von Archivaren für überlieferungswürdig erklärt und gesammelt wird, könnte dieser Bereich ungemein wachsen, Lücken schließen und neue Verbindungen schaffen, insbesondere mit Blick auf die zahlreichen mittlerweile existierenden Projekte, die ganze Stadtbevölkerungen erfassen (beispielsweise Gotha, Leipzig oder Aschersleben).

Dementsprechend ist dieser Beitrag ein Plädoyer, die Alltagskorrespondenz des 19. und 20. Jahrhunderts, wie man sie zu Tausenden in philatelistischen Sammlungen überliefert findet, nicht in die Bedeutungslosigkeit versinken zu lassen. Gleichzeitig sollten diese Daten gezielt gesammelt sowie zentral erfasst und dokumentiert werden. Dazu bietet FactGrid eine ideale Plattform.

Ihr Potenzial liegt auch in der Zufälligkeit des Zugangs oder der Entdeckung entsprechenden Materials. Hier kann Großes gehoben werden und aus kleinen, zunächst unbedeutend erscheinenden Bausteinen ein neuer und ergänzender Blick auf die Geschichte im Großen gelingen. Dies könnte sich auf die kommunistische Bewegung der 1920er Jahre, die Biographien von Schoah-Überlebenden oder die transatlantische Migration im 19. Jahrhundert beziehen, um nur einige der oben beschriebenen Beispiele zusammenzufassen.

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