Unser Wissen über den Illuminatenorden hat sich in den letzten 20 Jahren im kleinen Expertenkreis grundlegend verändert. Die Zäsur bilden die 1990er Jahre, mit denen nach dem Fall der Mauer die Schwedenkiste größtenteils zugänglich wurde. Der Bestand gehörte ursprünglich Gothas Freimaurerloge. Die NS-Behörden hatten ihn im Dritten Reich beschlagnahmt, die sowjetischen Besatzer nach dem Krieg nach Moskau verbracht und am Ende bis auf den zehnten der 20 Bände der DDR zurückerstattet. Mit deren Ende gelangte dieser Bestand von Merseburg in das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz. Wer ihn erforschen will, muss sich heute mit dem Besitzer, der Großloge „Zu den drei Weltkugeln“, verständigen – das Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz macht diese Bände als Depositum zugänglich.
Vor dem Wiederauftauchen der Schwedenkiste in den 1990er Jahren basierte die Forschung im Wesentlichen auf den Materialien, die der Bayerische Staat Mitte der 1780er Jahre beschlagnahmt und publiziert hatte, sowie auf den Publikationen Adam Weishaupts und seiner ersten Mitstreiter, die auf die Entdeckung unmittelbar mit weiteren, nun verteidigenden Einblicken reagierten.
Das Bild, das man damit bis in die 1990er Jahre vom Illuminatenorden hatte, blieb auf den bayerischen Geheimbund fokussiert, den der bayerische Staat in Etappen nach 1784 verboten und verfolgt hatte. Die Dokumente, die Bayerns Regierung publizierte, zeigten eine Organisation, die höchste Kreise erfasst hatte, und die sich ansonsten als freimaurerisches Hochgradsystem verbreitete – die idealistischen und idealisierenden Gradtexte waren zentral. Klar war wohl, dass der Orden ausgriff, und dass Männer wie Goethe und Herder ihm außerhalb Bayerns angehörten, doch ließ sich in dieses Geflecht nicht sehr viel tiefer eindringen.
Die Phasen des Illuminatenordens 1778 bis 1788
Die Schwedenkiste ist im Wesentlichen der illuminatische und in Randaspekten freimaurerische Aktenbestand Johann Joachim Christoph Bodes und Ernsts II. von Sachsen-Gotha-Altenburg. Bode war 1783 vom jungen Freiherrn Knigge für den Orden gewonnen worden. Dieser hatte von Hessen aus seit Beginn der 1780er Jahre den Ausbau des Ordens maßgeblich vorangetrieben, indem er ihn konsequent zu einem freimaurerischen Reformprojekt, wenn nicht zu einer neuen Alternative jenseits der Freimaurerei umgestaltete. Knigge rekrutierte unter hochrangigen und unzufriedenen Freimaurern und schuf Loge um Loge, dort, wo er Mitglieder generierte, eine freimaurerische Binnenelite, die sich fortan unter dem neuen Dach der Illuminaten traf. Allein 500 der am Ende 1340 Illuminaten will er aufgenommen haben.
Bode war die prestigeträchtige und umstrittene Erwerbung, über die Knigge zu Fall kam. Mit Bode sollte die größte deutsche Vereinigung der „Hochgradmaurerei“, die „Strikte Observanz“, gekapert werden, und Bode sollte deutsche Fürsten in den Orden bringen. Weishaupt und seine ursprünglichen Mitstreiter waren weitgehend gegen die Aufnahme von Regenten wie gegen die Aufnahme höherer kirchlicher Würdenträger. Bode blieb im Orden, ebenso die drei Fürsten, die er im Eklat aufnahm, doch musste Knigge gehen und Bode ein Innehalten versprechen.
Im Spätsommer 1783 begann Bode die Arbeit am Aufbau der ihm zugewiesenen Provinz. Von Weimar, „Hieropolis“, aus würde er die Illuminaten in „Ionien“, Thüringen organisieren. Seinerseits sicherte sich Bode durch einen strategischen Schachzug im Orden ab, indem er Gothas Ernst II. 1785 in die Position des deutschen „Nationals“ brachte – ihm und nicht Weishaupt unterstand er damit.
Grob können wir damit heute mindestens drei Orden vorsichtig voneinander trennen: den bayerischen Orden, den Weishaupt und seine Mitstreiter ab 1778 aufbauten (1776 hatte man nur einen losen Studentenbund unter dem Namen Perfectibilisten gegründet) – seine Ära geht bis in die bayerischen Verbote und „Verfolgungen“ 1785/86. Ein maßgeblich von Knigge außerhalb Bayerns vorangetriebener Orden steht dem mit den frühen 1780er Jahren zur Seite – unter komplexen persönlichen Spannungen zwischen allen, die über sein weiteres Schicksal (vor allem über eine Demokratisierung der Ordensführung) diskutieren. Mit Bode entfaltet sich zwischen dem Frühjahr 1784 und dem Sommer 1787 Thüringen als neue führende Provinz mit einem Orden, in dem nun Regenten hinter den Kulissen Positionen einnehmen.
Über diese letzte bedeutende Provinz sind wir mit der „Schwedenkiste“ seit den 1990er Jahren eingehender informiert – keine nebensächliche Akzentverschiebung: Adam Weishaupt wurde 1786 von Gothas Regent in Schutz genommen. Eine Position als Gothaer Rat gestattete ihm das Unterkommen in Regensburg und dann ab 1787 und für den Rest seines Lebens in Gotha.
Die Schwedenkiste: Einblicke in ein bürokratisches Monster
Im puren Volumen stellt die Schwedenkiste den Aktenbestand, der in den 1780er Jahren in München verlässlich publiziert wurde (und der später verloren ging), vollendet in den Schatten. In 20 Foliobänden sind hier über 6354 Dokumente – fast 22.000 Dokumentenseiten – geordnet. Wir wissen nicht, was die originäre Ordnung dieses Bestandes war. 1794 gelangte er, nach dem Tod Bodes, von Weimar nach Gotha. Dort wurde er mit Akten Ernsts II. und der Gothaer Minervalkirche (das illuminatische Äquivalent zu den Logen) aufgestockt. Nach dem Tod Ernst II. ging dieser Bestand, wie testamentarisch 1804 verfügt, an das Archiv verbrüderter Freimaurer nach Stockholm. Aus Schweden kehrte er 1881 nach Gotha zurück – in der „Schwedenkiste“. Von da an dauerte es nochmal mehrere Jahrzehnte, bis man den Bestand ordnete: 1908 brachte ihn der Üllebener Pfarrer Carl Lerp in seine gegenwärtige Ordnung, indem er in einer durchaus rabiaten Aktion die Dokumente zum Teil sehr willkürlich sortierte und mit Leim auf Pappseiten klebte, die dann von einer Gothaer Buchbinderei zu den bis heute so gefügten 20 Bänden zusammengebunden wurden.
Lerps Eingriff von 1908 macht es heute schwer, die originalen Zusammenhänge besser zu erfassen; andererseits verdanken wir seiner Klebearbeit die Gewissheit, dass seitdem zumindest nichts mehr abhanden kam – nicht unter den nationalsozialistischen und nicht unter den sowjetischen Behörden. Lerp fixierte seine Dokumente, nummerierte sie konsequent durch und listete sie grob.
Jedem, der sich diesem Bestand nähert, ist eine massive Einarbeitung abverlangt. Alle Namen on Sendern, Empfängern und Beteiligten sind verschlüsselt, alle Ortsnamen, wenn Ordensdinge berührt sind. Die Datierungen erfolgen in einem pseudo-persischen Kalender, in dem die Illuminaten sich selbst laufend verheddern. (Das Jahr, exakt 600 Jahre zurück, darf nicht am 1. Januar schon eins hochgezählt werden, erst am 21. März – da werden laufend Daten der ersten drei Monate um ein Jahr verfehlt abgelegt).
Die Verschleierungen mit Ordensnamen, -orten und -kalender sind oberflächlich. Komplex ist im Orden organisiert, wie transparent – genauer semitransparent – die Kommunikationen stattfinden. Jedes Mitglied schreibt monatlich zumindest ein „Quibus Licet“, einen Bericht, den jeder „Unbekannte Obere“ im Orden lesen darf in den Orden hinein. Zwei Monate später erhält es in seiner Minervalkirche die Antwort eines gewissen „Basilius“ zurück, eine „Reproche“. Die zwei Monate Verzug müssen verschleiern, wie weit Basilus entfernt ist, und erfordern eine laufende künstliche Informationsbevorratung hinter den Kulissen.
Zu den Quibus Licet und Reprochen von und an die 81 Thüringer Mitglieder der Minervalkirchen in Syracus (Gotha), Lycopolis (Erfurt), Butus (Jena), Aquinum (Rudolstadt) und Piacentia (Buttstädt) kommen die Aufsätze, die die Mitglieder zu den lokalen Sitzungen schrieben, die Sitzungsprotokolle der Minervalkirchen und Magistrate, die an Bode gingen, und Bodes Berichte an Ernst II. Bode verfügte zudem über eine weit nach Deutschland ausgreifende Mitgliederdatei, heute der in Moskau liegende doch im Digitalisat bekannte zehnte Band; er korrespondierte wie Ernst II. auf höheren Ebenen; beide sammelte Debattenniederschläge aus der internen Reformdiskussion und Informationen aus Streitfällen.
All dies schafft heute ein äußerst dichtes Informationsgefecht – jenes Geflecht, aus dem der Orden seinerzeit seine Macht gegenüber den Betreuten bezog: Wer in ihn eintrat, war gezwungen, sich laufend zu allen Themen und höchst persönlich schriftlich zu äußern. Der Orden stand ihm dunkel gegenüber; doch betreuten ihn „Unbekannte Obere“ laufend mit dem Bekunden, an seiner intellektuellen Fortenwicklung teilhaben zu wollen – und sie waren bestens über jeden zu Betreuenden informiert.
Verschwörungstheoretiker vermuten in der Regel, dass Geheimorganisationen keine Spuren hinterlassen. Das Gegenteil ist der Fall: Eine geheime Organisation muss kommunikativ sein, wenn sie den Mitglieder glaubhaft versichern will, dass sie existiert. Sie sollte bürokratisch Daten sammeln – der Illuminatenorden tut das bis in die Charaktertabellen hinein, die jeder über sich zu Beginn einreichen muss – um sicherzustellen, dass sie die Mitglieder kennt, denen höhere Ebenen ja nur im Ausnahmefall auch einmal persönlich begegnen.
Die Schwedenkiste erschließen: Ein in mehrfacher Hinsicht komplexes Projekt
Die Schwedenkiste zu erschließen, ist ein Forschungsdesiderat, dem man sich ohne eine Datenbank nur höchst unbeholfen annähert.
Nahezu alle Dokumente sind handschriftlich fixiert. Jedes Dokument muss erschlossen werden: Wer schreibt hier tatsächlich, von wo, wann genau (wenn man die hunderte Datierungsfehler einkalkuliert)? Wer las? Die Absender wissen regelmäßig nicht, an wen sie genau schreiben. Wir wissen aber, dass der lokale Superior zumeist der Erstleser ist, dass Basilius der zentrale Leser ist – in der Provinz Ionien (Thüringen) ist das Aemilius (Bode), der aber eben nicht den Ordensnamen Aemilius je zusammen mit dem Funktionsnamen Basilius verwenden darf. Wir wissen, dass Bode Schriftstücke weitergibt – nach oben, aber auch an Mitarbeiter, die ihm eine Vorauswertung vorlegen oder gar seinen Posten bei Abwesenheiten übernehmen. Schreiber arbeiten für Bode, auf dass seine Handschrift ihn nicht verrät. Diese laufende Semitransparenz von Kommunikation lässt sich nur in einer Datenbank klarer erfassen.
Kaum ein Forschungsprojekt kann sich in den regulären drei Jahren Förderdauer in das Gewirr einarbeiten und einen Forschungsband aus dem Gewirr heraus vorlegen. Klug wäre es, Eingearbeitete würden eine Crowd-Erschließung betreuen. Mit ihr würde es vor allem darum gehen, die internen Bezüge dieser Akten wiederherzustellen, zu erfassen, was da auf was jeweils die Antwort ist – die Ordensbürokratie überliefert laufend intern bewahrte Vorschriebe, mit denen wir wissen, wie eingehende Briefe beantwortet wurden.
Was wir benötige, ist eine Datenbank, die alle 21.723 Digitalisate verwaltet und die sich für deren beliebige interne Vernetzung offen erweist, eine Software, die daneben die kollektive Transkription von Bilddateien erlaubt. Die Wikisource-Software ist hier wie keine andere geeignet.
Zu den Voraussetzungen eines solchen Projektes gehört im selben Moment eine größere Übereinkunft unter großem wechselseitigen Vertrauen: Eine Kooperation zwischen
- der Großloge „Zu den drei Weltkugeln“ als Eigentümerin des Materials,
- dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, das dieses Material zugänglich macht,
- einer Forscher-Gruppe, die die breitere Erschließung mit ausgewiesener Expertise verantwortungsvoll betreute, und
- einem Partner, der in der Lage ist, eine international agierende Community auf ein solches Projekt anzusetzen und die genutzte Software an Problemfällen wachsen zu lassen (Wikimedia Deutschland bietet sich hier an).
Über den Tellerrand gesehen
Spannend wird die Erschließung des illuminatischen Aktenbestandes in der Sekunde, in der die benutzte Ressource neue Recherche-Angebote macht. Bei der Durchleuchtung des Illuminatenordens wird man von Visualisierungen der Beziehungsgeflechte und Kommunikationsgefüge profitieren. Von wo nach wo flossen in diesem Orden die Informationen? Wie wurde unterschiedliche Transparenz des Informationsflusses eingesetzt? Welche Beziehungsnetze ergaben sich mit der Hierarchie? Welche Beziehungsnetze unterliefen die Hierarchieebenen? Wie weit wussten einzelne Mitglieder Seilschaften im Orden zu handhaben?
Statistische Auswertungen werden interessant sein: In welchen Schüben erweiterte sich der Orden geographisch? Wie veränderte sich im Verlauf die Mitgliederstruktur? Inwieweit hob der Orden Konfessionsschranken auf, inwieweit zeichnen sie sich in ihm ab? All dies sind Fragen, die die Arbeit mit einer Datenbank einfordern, und diese wiederum wird unmittelbar weitere Projekte in ihren Bann ziehen: Der Illuminatenorden infiltrierte die kontinentaleuropäische Freimaurerei. Sie wiederum ist nur die Spitze des Eisbergs in einem sehr komplexen Sozietätenwesen, das im Lauf des 18. Jahrhunderts die alten politischen und territorialen Strukturen neu vernetzte – unter Maßgabe neuer bürgerlicher Interessen mit einem erheblichen Bildungsanspruch, der am Ende ins 19. Jahrhundert weist.
Das spannende am Illuminatenorden liegt im selben Moment laufend außerhalb dieses Bestandes: Ein enormes öffentliches Interesse gilt den Illuminaten: das Interesse von Verschwörungstheoretikern und das Interesse einer breiten Öffentlichkeit, die nicht versteht, wovon diese Verschwörungstheoretiker hier träumen.
Der Orden erweist sich dabei als sehr modernes Konstrukt einer Informationen akkumulierenden Institution, jedoch auch als ein Konstrukt, das klar macht, wo die Verschwörungstheorien haken: Einen solchen Orden zu betreiben, ist hochgradig ineffizient; die Struktur, die dabei entsteht, kann sich selbst im Verlauf nicht mehr reformieren. Die Basis kennt nur lokale Strukturen und bleibt desorientiert zurück, wenn die höheren Ebenen das Projekt aufgeben.
Die heutigen Verschwörungstheorien sind in ihrer ersten Phase den Jahren zwischen 1786 und 1800, der Nachhall dieser Desorientierung.
Links etc.
- The Gotha Illuminati Research Base. Link
- Metadaten zu den knapp über 6000 Dokumenten der “Schwedenkiste”, des zentralen Aktenbestands im Nachlass des Illuminatenordens. Link
- Renate Endler, „Zum Schicksal der Papiere von Johann Joachim Christoph Bode“, in: Quatuor Coronati, Jahrbuch 27 (1990), S. 9–35.
- Renate Endler, „Band X der Schwedenkiste aufgefunden“, in: Quatuor Coronati, Jahrbuch 31 (1994), S. 189–97.
- Olaf Simons/ Markus Meumann, „‚Mein Amt ist geheime gewissens Correspondenz‘. Bode als ‚Unbekannter Oberer‘ des Illuminatenordens“, in: Cord-Friedrich Berghahn/ Gerd Biegel/ Till Kinzel (eds.), Johann Joachim Christoph Bode. Studien zu Leben und Werk [= Germanisch-Romanische Monatsschrift, Beiheft 83] (Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2017), S. 435–504.
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