Kopfzerbrechen Nr. 3: Genealogien

Genealogien durchdringen alle Arbeitsgebiete. Wer Bibliothekskataloge durchsucht, erhält Verlagsangaben und bleibt im Dunkeln darüber, wie diese Angaben zusammenhängen.

Genealogien der Geschäftsführung

Dem Buchhandelshistoriker ist klar, dass er hier genealogisch denken muss: Die städtischen Behörden vergaben Lizenzen für den Druck, Verlag und/oder Verkauf von Büchern. Die Lizenzen wurden innerfamiliär weitergegeben vom Vater auf den Sohn oder, bei ausbleibenden Erben, auf die Witwe und die Kinder, bis jemand in das Geschäft einheiratete oder es von auswärts kommend erwarb.

Neue Lizenzen wurden selten eröffnet. Das Interesse des Hofes konnte hier innserstädtische Interessen an der Vermeidung von Konkurrenz außer Kraft setzen. Eine Geschäftsteilung konnte eine Differenzierung in verschiedene Lizenzen mit sich bringen – fortan bestand ein Unternehmen als reine Druckerei, und eines als reines Verlagsgeschäft mit Buchhandlung.

Dutzende von Namen über drei Jahrhunderte ordnen sich, sobald man die Genealogie der weitergegebenen Rechte erfasst, zu wenigen Strängen pro Stadt – das kann wie folgt für München oder Gotha aussehen:

Vergleichbare Darstellungen der Geschäftsbeziehungen sind bereits Teil des ungeborgenen Katalogwissens. Die Kataloge könnten theoretisch auf die Nahtstellen hinweisen, an denen vermutlich ein Wechsel stattfand, ein Name ausläuft, ein anderer anhebt. Letztlich erfordert die Rekonstruktion der Zusammenhänge jedoch eigenes Wissen über Familienbeziehungen und die Zusammenhänge der städtischen Gewerbeakten.

Auf der Ebene der Software benötigte man die passenden Darstellungsoptionen. Vor allem aber braucht man Schnittstellen, an denen Benutzer die Verbindungen herstellen und die Genealogie ordnen können.

Genetische Verhältnisse: Stemmata

Viel komplizierter liegen die Verhältnisse bei den genetischen Zusammenhängen zwischen Buchausgaben. Manche Kataloge scheitern hier schon im Ansatz wie der hinter Google Books. Man versuche etwa, die Nummern eines Journals aus dem 18. Jahrhundert, dessen Digitalisate irgendwie im System stecken, sich der Reihenfolge nach anzeigen zu lassen. Google hilft einem hier mit einem vagen Angebot weiter nach dem Motto „Leser, die dies lasen, könnten auch diese Links interessant finden“.

Doch auch ausgefeilte Kataloge wie der ESTC, das Verzeichnis aller englischen Titel der Jahre 1473 bis 1800, weisen hier rasch unüberschaubar werdende Gebiete auf – dann etwa, wenn minimale Varianten von einer Ausgabe, verschiedene Auflagen und zudem einzelne Teilbände auf ein Jahr fallen wie im Fall der Katalogangabe für Delarivier Manleys Atalantis:

ESTC Suche: “Atalantis”. Auch nach der chronologischen Sortierung bleibt unklar, hinter welchem Link der erste Text liegt.

Man wünschte sich hier nicht minder eine Option der genealogischen Strukturierung: Der erste Band erschien im Mai 1709; im Juli musste er nachgedruckt werden. Band zwei folgte im Oktober. 1710 brachte die Autorin ein Werk heraus, das erst einmal einen eigenen Titel trug: die Memoirs of Europe. Ein halbes Jahr später folgte davon Band zwei. Ab 1715/16 wurden diese Bände in Neuausgaben der Atalantis als deren Folgen III und IV notiert.

Dem Markterfolg wurden ab 1711 auch noch ganz andere Bücher untergeschoben: 1705 war erstmals eine Queen Zarah mit ähnlicher Skandalgeschichte erschienen. Deren zweite Ausgabe kommt 1711 „by way of appendix to the New Atalantis“ heraus. Ein weiterer älterer Titel macht denselben Sprung in den Komplex und vier neue wollen unverzüglich in ihn hinein. Siehe hier die geschlossenere genetische Darstellung: http://pierre-marteau.com/library/e-1709-0004.html.

Der ESTC ist im Kern ein Nationalkatalog. Das wird deutlicher, sobald man die weiteren Titel auf dem europäischen Markt nachweisen will – dem versagt sich der ESTC. In den Niederlanden erfolgte 1713 die Übersetzung der ersten zwei Bände ins Französische. Eine nachweisbare, kondensierte deutsche Fassung datiert vermutlich von 1714 und übersetzt nach der französischen Ausgabe.

Für die beschriebenen genetischen Beziehungen bräuchte man Stemmata, wie sie in der Handschriftenkunde verbreitet sind. Das Komplizierte ist hier, dass die Beziehungen zwischen Titeln immer über das ganze Schema hinweg verlaufen können. Ein Verlag mag bei einer Neuausgabe nach der letzten ihm greifbare Ausgabe setzen. Er könnte jedoch auch auf die Erstausgabe zurückgreifen, oder eine von der Autorin korrigierte spätere. Die moderne „kritische“ Ausgabe wird sich für eine Leitausgabe entscheiden, und Varianten (wenn vorhanden) mit dem Manuskript der Autorin und den ersten und letzten Ausgaben, die sie selbst beeinflusste, erfassen.

Stemma für die Manuskripte des ‘Pseudo-Apuleius Herbarius’ aus Ernst Howald and Henry E. Sigerist. Antonii Musa De herba vettonica (Leipzig 1927). https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Howald-sigerist.png

Wieder wäre einem mit einer Schnittstelle geholfen, die es erlaubte, verschiedene genetische Beziehungen zwischen Ausgaben herzustellen, die dann in einer Visualisierung zum Zuge kämen.

Entwicklungen

Natürlich hofft man auf die Software, die selbst rekonstruiert, wie sich die Dinge ordnen – darum geht es im Umgang mit „Big Data“. Das Spannende an der Wikidata-Software ist jedoch im selben Moment, dass der Benutzer mit ihr sein Wissen viel schneller und härter einbringen und damit die großen Schneisen der Diskussion gezielt und diskutierbar schlagen könnte.



oder:

..von hier: https://www.edwardtufte.com/bboard/q-and-a-fetch-msg?msg_id=0000yO

Siehe auch

One Reply to “Kopfzerbrechen Nr. 3: Genealogien”

  1. Gefühlt gibt es drei unterschiedliche Funktionen, die für Generologien gebraucht werden.
    1) GEDCOM ist ein Datenformat in dem die meisten bestehenden digitalisierten Generologien gespeichert sind. Ein Tool zum automatischen import von GEDCOM, wäre hilfreich.
    2) Eingabemasken für die manuelle Erstellung von Einträgen.
    3) Darstellung von Stammbäumen. Momentan gibt es den Ancestor Gadget, aber die Qualität ist eventuell nicht motivierend.

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